16.09.15: Spoke Der Die Das: "Blinder Passagier"
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Spoke Heft Nr. 21 September / Oktober 2015 erschienen am 16.09.2015
Text: Katharina Müller-Güldemeister Fotos: Patricia Kühfuß
Rausgehen, das geliebte Fahrrad nehmen und eine Runde drehen. Was für uns das Normalste der Welt ist, erfordert für den blinden Peter Welzbacher einiges an Herausforderung, denn er kann nur noch auf dem Tandem mitfahren – dies allerdings mit Leidenschaft.
Auf drei geht’s los. Peter Welzbacher und ich treten in die Pedale. Die Kurbeln sind parallel geschaltet, wir fahren auf einem Tandem. Ich vorne, er hinten – er ist blind, ich nicht – ich brauche das Einzählen, er nicht. Die ersten Meter fühlen sich an, als würde man einen Getränkekasten auf dem Gepäckträger und schwere Tüten am Lenker transportieren.
Ein paar Pedalumdrehungen später geht mit einem Mal alles leicht, als ob ein Elektromotor schieben würde. Welzbacher will die anderen vier Teams vom Tandemclub Offenbach überholen. Es geht um nichts, außer den Wind im Haar und die Sonne auf der Haut zu spüren – eine Feierabendtour im Sommer. Doch Welzbacher fährt nicht gern an letzter Stelle. Früher war Laufen sein Sport. Fünf Marathons hat er in seinem Leben geschafft. Seine Bestzeit: drei Stunden, 30 Minuten und 30 Sekunden. Das war 1984 mit 38 Jahren. Da konnte er die Straße schon fast nicht mehr sehen. Binnen weniger Jahre schwand der Rest seines Augenlichts. Das Foto vom Zieleinlauf hat er trotzdem aufgehoben.
„Damals sah ich noch sehr gut aus!“, sagt Welzbacher und lächelt, obwohl er auch mit 69 Jahren kein Gramm Fett zu viel mit sich herumträgt. Hören konnte Welzbacher schon von Geburt an nicht besonders, auch wenn er erst später merkte, dass etwas mit seinen Ohren nicht stimmte. Mit Mitte dreißig erfuhr er, dass er das Usher-Syndrom hat, eine Erbkrankheit, die zu Taubblindheit führt. Er versuchte, nicht zu viel darüber nachzudenken. Doch mit 42 Jahren waren die Einschränkungen so groß, dass er seinen Job als Versicherungsmakler kündigte, Resturlaub nahm und in Frührente ging. Kerngesund, wie er sagt, von Augen und Ohren einmal abgesehen.
Dass er nicht mehr arbeiten konnte, war die eine Sache. Den Sport aber wollte er sich nicht nehmen lassen. 1989 hat er den Tandemclub Offenbach mitgegründet, wo sehende „Piloten“ mit Blinden und Sehbehinderten zusammen fahren. Seit seiner ersten Tour verpasst er kaum noch eine der Ausfahrten, die zwei bis vier Mal im Monat stattfinden. Wenn es nach ihm ginge, könnten es noch mehr sein. Doch es ist nicht immer leicht, genügend Piloten zu finden. Um in Form zu bleiben, macht er jeden Morgen 500 Liegestützen und fährt eine Stunde auf dem Ergometer. „Ich will nicht angeben, aber das goldene Sportabzeichen könnte ich von der Leistung her fast jeden Tag machen“, sagt er. In der Praxis ist das allerdings nicht so einfach. Bis zu 30 Meter kann er ohne Hilfe geradeaus gehen, beim Schwimmen fehlt ihm aber jegliche Orientierung. „Beim Tandemfahren reicht es, wenn der Pilot weiß, wo es langgeht. Man muss die Kurve nicht sehen, man spürt, wann man sich nach links oder rechts legen muss.“ Oft vergisst er dann, dass er ein „spezielles Problem“ hat. „Man riecht die Blumen, Bäume und Flüsse und projiziert sich ein Bild hin. Manchmal frag’ ich mich sogar: Hab ich das jetzt gesehen?“
Und dann ist da natürlich auch noch der Ehrgeiz. Seit er keine Marathons mehr laufen kann, ist das Frankfurter Radrennen „Rund um den Henninger Turm“, das später in „Frankfurt – Eschborn“ umbenannt wurde, Ziel seiner Ambitionen. Viele Male ist er in Vorbereitung auf die große Runde des Jedermannrennens den rund 880 Meter hohen Feldberg mit durchschnittlich sechs bis sieben Prozent Steigung hochgefahren, um ihn beim Rennen, ohne abzusteigen, bezwingen zu können. Weil zu viele Tandems am Feldberg scheiterten, ist die Feldberg-Runde seit 2010 allerdings nur noch für Einzelfahrräder zugelassen. Und dieses Jahr wurde das Rennen wegen des Verdachts eines Terroranschlags auch noch abgesagt.
Bleibt ihm also sein Ergometer, auf dem er sich immer wieder selbst besiegt. Und die kleinen Rennen, die er sich mit den anderen Tandemclubteams liefert – ob sie nun mitmachen oder nicht. Aber das sei auch nicht alles. Die Gespräche mit den Piloten, den Wald riechen – das gibt ihm viel. Ein Stück Freiheit, ein Stück Alltag, wie er sein sollte.
Nach zweieinhalb Stunden durch Felder, Wiesen und Wälder, vorbei an Backsteinbauernhöfen, einem Schloss und vielen Kleingärten, tauchen am Ende des Waldweges wieder die Sportplätze auf, wo der Tandemclub seine Räder unterstellt. Welzbacher hat sich gerade erst warmgefahren, doch es wird Zeit für eine letzte Frage: „Wie fühlt es sich an, mit einem Fremden auf einem Tandem zu fahren?“ – „Ach, da muss man blindes Vertrauen haben.“
(Hier die Bildunterschriften, die Bilder selbst folgen noch mit einer genauen Beschreibung...) Bild 01: Peter Welzbacher als er noch ein wenig sehen konnte und bei einem Marathon mitgelaufen ist. Bild 02: Bei den Ausfahrten geht es nicht darum zu gewinnen, sondern darum, Spaß auf dem Rad zu haben – auch als blinder Passagier. Bild 03: Peter Welzbacher (rechts) mit seiner Tandempartnerin Heidi Köhler. Bild 04: Der Tandemclub rund um Peter Welzbacher beim Rennen in Eschborn 2014. Bild 05: Ob blind oder nicht, geschraubt wird noch selber!
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